Montag, 19. November 2012

Great Expectations

Mit Erwartungen ist es ja so eine Sache - schon im normalen Leben. Wenn man sich aber mit Vollgas einem physischen und psychischen Zusammenbruch nähert, macht das die Sache noch um einiges komplizierter.
Zum Beispiel würde ich mich wirklich sehr darüber freuen, wenn sich irgendwann auch mal wieder jemand um mich kümmern könnte, mir ein Glas Rotwein einschenken und ein Butterbrot schmieren oder eine Suppe kochen würde, aber offensichtlich habe ich in den letzten neun Monaten endgültig verlernt, meine Wünsche und Erwartungen in die passenden Worte zu kleiden, damit sie erhört und im besten Falle auch hin und wieder erfüllt werden. Schon vor Lenas Erkrankung war ich diesbezüglich kein großer Meister und habe heimlich die Hoffnung gehegt, dass meine Lieben doch bitte meine Gedanken lesen mögen, um mir all meine Herzenswünsche zu erfüllen. Ich muss vermutlich nicht betonen, dass das nur sehr selten bzw. so gut wie nie funktioniert hat. Nun aber scheint meine gedankliche Schrift unleserlicher denn je zu sein.

Das letzte Dreivierteljahr hat mir doch einiges abverlangt - das kann ich sagen, ohne dabei sonderlich zu übertreiben. Dass man als Mutter in einer solchen Situation über Wochen und Monate hinweg mehr oder weniger perfekt funktioniert, versteht sich von selbst. Und auch wenn man manchmal heimlich denkt, dass man wirklich nicht mehr kann, sagt man das natürlich nicht, sondern macht einfach weiter. In dieser Hinsicht unterscheide ich mich nicht im Geringsten von all den anderen Müttern (und teilweise auch Vätern), die ich in den langen Monaten unseres Klinikaufenthaltes kennengelernt habe. Natürlich bin ich mehr als urlaubsreif, aber selbstverständlich fahre ich NICHT in Urlaub, wie denn auch? Erstens ist es zeitlich nicht drin und zweitens könnte ich einen Urlaub auch gar nicht genießen. Mich würde von morgens bis abends das schlechte Gewissen plagen, das sich ja schon meldet, wenn ich nur beim Friseur sitze und mein ELLE-Genuss-Horoskop lese... Wie kann ich in Urlaub fahren, wenn mein Kind zuhause bleiben muss, weil es Krebs hat? Undenkbar! Also nöle ich hin und wieder mal rum, dass ich dringend eine Pause brauche, aber ansonsten funktioniert das Mütterchen wie eine gut geölte Nähmaschine und rattert mal mehr und mal weniger gestresst zuverlässig vor sich hin. Zum Glück geht es Lena im Moment so gut, dass ich nicht jeden Abend mit dem Gedanken einschlafe, dass dies vielleicht auf unabsehbare Zeit die letzte Nacht sein könnte, die wir zuhause verbringen, weil wir wegen Komplikationen wieder in die Klinik einrücken müssen. Das ist schön und lässt mir Zeit, mich um meine beiden anderen Kinder zu kümmern, die sich aktuell von einer Mittelohrentzündung zur nächsten schleppen. 

Mal ganz ehrlich? Ich habe keine Lust mehr! Ich bin erledigt! Fertig! Perdue! Done! Aber kann ich das in vernünftige Worte packen und sagen, dass ich auf dem letzten Loch pfeife und meine Kräfte aufgebraucht sind? Nein, das kann ich nicht. Schließlich ist es nämlich auch ganz schön, plötzlich als Fels in der Brandung wahrgenommen zu werden, als perfekte Mutter, die sich unermüdlich um ihr krankes Kind kümmert und nebenbei noch zwei andere Kinder plus Hund plus Umzug plus Weihnachten wuppt. Jammern passt da nicht und kratzt am Lack. Also behalte ich das Gefühl der Überforderung weitestgehend für mich und warte klammheimlich darauf, dass das mit dem Gedankenlesen vielleicht doch eines Tages klappt. So viel gibt es ja auch gar nicht zu lesen. Vielleicht mal das oben erwähnte Süppchen oder ein simples Dankeschön. Ein Frühstückstisch, der nicht noch abends um 18.30 Uhr darauf wartet, abgeräumt zu werden. Aber vielleicht ist meine gedankliche Schrift wie schon oben erwähnt einfach nicht leserlich genug oder in einer Sprache verfasst, die außer mir keiner versteht. In dem Fall kann ich dann bis zum Sankt Nimmerleinstag auf die Erfüllung meiner Wünsche warten, was aber wirklich sehr bedauerlich wäre. 

Damit das nicht passiert, schreibe ich es deshalb nun an dieser Stelle schwarz auf weiß auf - und zwar an jemanden, der für solche Wünsche zuständig ist:



Lieber Weihnachtsmann,

hier mein Wunschzettel für 2013 (und gerne auch noch für die letzten Wochen in 2012):
  1. Ein tolles, selbstgekochtes Essen, zusammen mit einem Glas Rotwein. Ich wünsche mir, dass es mir jemand zubereitet, der daran auch wirklich Spaß hat und es nicht als reine Pflichterfüllung betrachtet. 
  2. Ein aushäusiges und romantisches Wochenende, nur mit meinem Mann. 
  3. Ich wäre gerne eine Mutter, die ein Recht darauf hat, nicht immer perfekt und gut gelaunt sein zu müssen, sondern der man auch mal schlechte Laune oder einen hysterischen Heulkrampf zugesteht. Außerdem möchte ich nicht schon im Oktober wissen müssen, was ich Weihnachten koche.
  4. Ich wünsche mir, dass meine Kinder den Fernseher ausmachen und sich die Zähne putzen, wenn ich sie darum bitte.
Vielen Dank,
Dein Frenzy-Girl