Mittwoch, 7. August 2013

Frenzy Girl goes USA

Hier bin ich nun also - in Wichita (Kansas), dem Air Capital of the World. Den ganzen Tag sausen coole, kleine Turboprobs und Learjets über meinen Kopf hinweg, während ich mich den Dingen widme, die man nur erledigen kann, wenn man mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht. 

Da wären zum Beispiel Ausflüge zu Victoria's Secret und The Gap, zu Barnes and Noble und Walgreens. Bei letzterem handelt es sich um meine absolute Lieblings-Pharmacy, in der ich praktisch ganze Tage verbringen könnte. Es gibt alles, wirklich ALLES!!! Und das, was man dort dann doch nicht bekommt, findet man bei Hobby Lobby, einem Wallfahrtsort für alle Handarbeits- und Dekorationswütigen, an dem ich gestern die bislang größte Plastik-Weihnachtsbaum-Ausstellung besucht habe, die ich je gesehen habe (nicht, dass ich vorher schon mal in die Verlegenheit gekommen wäre, aber man weiß ja nie, was noch alles kommt - diese Lektion des Lebens habe ich mittlerweile wirklich verinnerlicht). Dann wäre da noch der absolut einzigartige Baumarkt The Home Depot, in dem man neben unglaublichen XXL-Grills und wunderschönen Rasenmähertraktoren Waschmaschinen und Kühlschränke von der Größe Oklahomas besichtigen kann - ein Traum! In meinem goldenen VW Jetta düse ich von einer Besichtigungsstätte zur nächsten, was den Schluss nahelegt, dass es mit dem geplanten Schreiben von morgens früh bis abends spät bisher noch nicht so richtig geklappt hat. 

Der Grund dafür ist relativ einfach: Ich fühle mich befreit wie lange nicht und habe gar keine Lust, mich ständig mit dem Scheißthema Krebs auseinanderzusetzen. Dies ist tatsächlich das erste Mal seit anderthalb Jahren, dass ich zumindest örtlich gesehen unglaublich weit weg bin von allem. Die Trennung von Lena fällt mir zum Glück auch nicht ganz so schwer, wie ich befürchtet habe. Ich vertraue darauf, dass alles gut läuft in meiner Abwesenheit. Woher ich dieses Vertrauen nehme, ist mir zwar nicht ganz klar, aber irgendwo hat es vielleicht die ganze Zeit in mir geschlummert und ist jetzt netterweise endlich mal aufgestanden, um für die nächsten Tage zu übernehmen. Anders ließe sich vieles auch einfach nicht aushalten. Bei unserer Landung in Chicago erhielt ich von meiner Freundin Anna die Nachricht, dass ihr kleiner Sohn, mit dem wir in der Klinik für längere Zeit ein Zimmer geteilt und den wir wirklich liebgewonnen haben, am Sonntag gestorben ist. Das war ein unglaublicher Schock und im ersten Moment war das Gefühl überwältigend, sofort wieder zurück nach Hause fliegen zu wollen. Schon in den Tagen davor hatten wir schlechte Neuigkeiten von der kleinen Leni erfahren, mit der wir ebenfalls lange gemeinsam im Zimmer waren und die mittlerweile einen weiteren Rückfall erlitten hat und vor ihrer dritten Transplantation steht. Eigentlich möchte man den ganzen Tag nur zuhause sitzen und heulen, aber das geht ja irgendwie auch nicht. 

Also Augen zu und auf nach Kansas - und erstaunlicherweise entpuppt sich diese Reise als wahre Erholungstherapie. Ich verfolge zwar alle Neuigkeiten aus der Heimat und versuche an mancher Stelle auch zu helfen, aber trotzdem bin ich gleichzeitig auf eine angenehme Art und Weise entspannt und spüre die Angst zur Zeit nicht mehr so stark wie zuhause. Und das, obwohl ich ohne meine Tabletten unterwegs bin. Anfang Juni bin ich mehr oder weniger zusammengeklappt unter all der Angst und Sorge, so dass ich mich nach langen Ressentiments gegenüber medikamentöser Hilfe am Ende doch dafür entschieden habe. Und auch wenn ich ganz sicher keine Werbung für Psychopharmaka machen möchte, kann ich nur sagen, dass mir die kleinen Pillen wirklich sehr geholfen haben. Mein Wunsch war es, nicht länger das Gefühl zu haben, ich müsse ersticken unter der Last der Krankheit und der unglaublichen Angst um mein Kind, gepaart mit der Trauer um diejenigen, die es nicht geschafft haben. So etwas hält man auf Dauer einfach nicht durch, jedenfalls ich nicht. Und es ist ja nicht so, als würde sich die Situation nicht auch auf alle anderen Lebensbereiche ausdehnen. Alles leidet, die Geschwister, die Ehe, die sozialen Bindungen und viele Freundschaften. Wenn es also etwas gibt, das gewissermaßen den Druck im Kessel reduziert, zumindest ein bisschen, dann bin ich froh darum und dankbar dafür. Natürlich ist die ganze Sache nicht frei von Nebenwirkungen, aber die habe ich verglichen mit all dem Psychstress zuvor gerne in Kauf genommen. 

Am vergangenen Sonntag allerdings ließ mich zuerst mein Wecker und dann mein Augenlicht im Stich. Obwohl mein Pillendöschen absolut unübersehbar direkt neben meinem Telefon lag, versäumte ich, es in der Aufbruchshektik zum Flughafen einzupacken. Erst als ich im Flieger saß, dämmerte mir, dass ich das, was mir im Moment die größte Hilfe beim Durchhalten zu sein schien, zuhause liegen gelassen hatte und dass ich die nächsten zwei Wochen wieder alleine auf mich und meine Psyche gestellt sein würde. Vorsichtshalber warnte ich dementsprechend auch meinen Mann, dass er die kommenden Tage eventuell mit einem schwerst depressiven Wrack würde verbringen müssen und tatsächlich hatte ich nach der Nachricht von dem neuen Todesfall eine kurze Panikattacke, dass ich das alles ohne mein Citalopram nicht gut durchhalten würde. Aber zu meinem großen Erstaunen klappt es im Grunde ganz wunderbar. Der alles etwas dämpfende Umhang der medikamentösen Entspannung, den ich mir in den vergangenen Wochen um die Schultern gelegt habe, ist zuhause hängen geblieben und es geht mir trotzdem gut. Das liegt sicherlich vor allem an der räumlichen Distanz, das ist mir schon klar. Aber es ist trotzdem ein gutes Gefühl, mal für ein paar Tage tiefer durchatmen zu können und sich über Weihnachtsbäume aus Plastik für unglaubliche 600,- Dollar zu amüsieren oder stundenlang die kilometerlangen Bücherregale voller Self-Improvement-Books zu studieren, anstatt den ganzen lieben, langen Tag nur über Tod und Krankheit nachzudenken. Gestern habe ich in dem wunderbaren Buch God never blinks - 50 Lessons for Life's Little Detours einen Satz gefunden, der in etwa so lautet: "Then there are the really bad days when you want to quit chemo and therapy and just give up. Anyone with cancer has known those days. Even folks who have never had cancer have known them." Das ist so wahr, das ich am liebsten gleichzeitig lachen und heulen würde. Irgendwann langt es einfach mal - und dieser Punkt war bei mir nicht nur erreicht, sondern längst überschritten. 

Wie gut tut nun also die Zeit hier, weit weg von allem. Ich bemühe mich, soviel Kraft und Energie wie möglich zu tanken, um mich dann nächste Woche wieder dem Alltag zu stellen. Und das gelingt am besten dann, wenn man versucht, so lange es irgendwie geht auch gedanklich etwas abzuschalten.


In diesem Sinne...