Donnerstag, 25. Oktober 2012

Weniger ist mehr

Ich habe es ja immer schon gewußt: Auf mein iPhone ist Verlass - in jeder Lebenslage und zu jeder Uhrzeit. Welches andere Telefon würde zum Beispiel ganz von selbst, einfach so, an einem Dienstagabend um 23.40 Uhr den Direktor der Kinderonkologie der Uniklinik Frankfurt anrufen, ohne dass man selbst aktiv daran beteiligt war? Genau, kein anderes Telefon. Meines hingegen hat die ungewöhnliche und bisweilen zugegebenermaßen etwas aufdringliche Eigenschaft, trotz Tastatursperre einfach wahllos irgendwelche Leute aus meinem Adressbuch anzurufen, aber am Dienstag erwies sich dieses aufsässige Verhalten als ausgesprochen vorteilhaft. Der nette Herr Professor rief mich nämlich nach meinem vermeintlichen Anruf tatsächlich zurück und so kam es, dass wir kurz vor Mitternacht eine telefonische Sprechstunde abhalten konnten, in deren Verlauf ich folgende Information aus meinem Gesprächspartner herauskitzeln konnte: Es wird aller Voraussicht nach KEINEN fünften Intensiv-Chemoblock mehr geben. Hallelujah!!! Da ich durchaus noch einige Funken Restanstand besitze, gab ich mich mit dieser Aussage erstmal zufrieden und freute mich gemeinsam mit Lena bis morgens früh um 2.00 Uhr.
Heute hatten wir nun einen ausführlichen, der Tageszeit angemessenen Gesprächstermin in der Klinik. Tatsächlich stellt sich die Situation so dar, dass es vor einer endgültigen Entscheidung gegen den fünften Block noch einige zytogenetische und molekularbiologische Untersuchungen geben wird, aber sollten die Ergebnisse positiv ausfallen bzw. so, wie die Ärzte das erwarten, gilt tatsächlich offiziell die Devise: Mut zur Lücke oder Weniger ist mehr - vier Intensivblöcke statt fünf. Grundlage dieser nicht sehr einfachen Entscheidung ist eine aktuelle Studie aus Großbritannien, die sich zufälligerweise mit genau dieser Frage beschäftigt hat und zu dem Resultat gekommen ist, dass bei bestimmten Patienten mit gewissen genetischen Voraussetzungen die Notwendigkeit eines fünften Blocks nicht gegeben ist. Nun hoffen wir auf schnelle Ergebnisse bezüglich der erneuten Überprüfung bzw. Verifizierung von Lenas Zytogenetik. Es wäre eine unglaubliche Erleichterung, sich zumindest dieser Prüfung nicht mehr stellen zu müssen. Lena ist auch ungeheuer erleichtert - die Hoffnung auf Wiederaufnahme eines annähernd normalen Lebens rückt damit wieder in etwas greifbarere Nähe. 
Dennoch werfe ich ja bekanntlich gerne mit der Weisheit um mich, man solle den Tag nicht vor dem Abend loben (siehe letzter Blogeintrag vom 17.10.), insofern halten wir uns mit großer Euphorie erstmal noch ein wenig zurück. Außerdem liegt so oder so noch ein weiter und bisweilen sehr steiniger Weg vor Lena. Die Freude über die guten Nachrichten wurde beispielsweise etwas eingetrübt durch die Mitteilung, dass Lena noch mindestens ein ganzes Jahr die Pilztherapie fortführen muss. Ich hatte eigentlich eher mit einer Woche gerechnet, eventuell noch einem Monat, aber ein JAHR???? Doch offensichtlich ist das Risiko zu hoch, dass Lenas Immunsystem durch eine Virusinfektion oder eine bakterielle Infektion so geschwächt wird, dass der Pilz sich erneut bemerkbar macht und im schlimmsten Fall andere Organe außer der Lunge befällt. Nun gilt es, nach Alternativen zu der aktuellen Therapie zu suchen, denn es ist kaum denkbar, dass wir nach wie vor jeden Tag entweder in die Klinik fahren bzw. zuhause Infusionen laufen lassen. Tatsächlich gibt es auch ein Medikament, dass Lena ein Jahr lang oral einnehmen könnte, das jedoch bei Kindern bislang nicht zugelassen ist. Sollte die Kasse sich aus diesem Grunde nicht bereit erklären, für die Kosten aufzukommen, können wir nach der Behandlung wahrscheinlich Privatinsolvenz anmelden...
Ansonsten liegt ein gutes Jahr Dauertherapie vor Lena. Das bedeutet täglich Chemotabletten, Antibiotika, die eben erwähnten Antimykotika sowie diverse andere Leckereien aus der Pharmaküche. Dazu kommt einmal monatlich ein ambulanter Chemoblock an vier aufeinanderfolgenden Tagen sowie wöchentliche Blutbildkontrollen in der Klinik. Wir werden also weiterhin ein straffes Pflege- und Klinikprogramm haben, gebannt auf Bluwerte starren, hoffen und bangen und den ein oder anderen Kampf mit profilneurotischen Möchtegernprofessoren um Parkplätze vor der Tagesklinik austragen, doch dazu ein andermal mehr. 
Erst einmal atmen wir ein wenig auf und hoffen, dass sich unsere Wünsche nach etwas ruhigerem Fahrwasser nicht allzu schnell wieder zerschlagen. Mein Bedarf nach Havarien ist jedenfalls vorerst gedeckt. In diesem Sinne -  Mast- und Schotbruch!